Kohlenhydrate  Teil 5

Kohlenhydrate und Übergewicht

In diesem Artikel haben wir uns sehr viel vorgenommen: Wir hinterfragen das herkömmliche Verständnis von Übergewicht und die Kalorienbilanz. Wir besprechen die Bodyweight-Setpoint-Theorie und das Kohlenhydrat-Insulin-Model. Wir suchen nach Erklärungen für die weltweite Übergewichtsepidemie und nehmen dazu die moderne, westliche Ernährung genauer unter die Lupe. Zum Schluss erläutern wir auch gründlich die Rolle der Darmflora beim Übergewicht.

Bild: © runzelkorn – stock.adobe.com (bearbeitet)

Warum eigentlich einen langen Artikel über Übergewicht schreiben? Denn das Thema ist doch ganz einfach: Ein Mensch nimmt mehr Kalorien zu sich als er verbraucht. Der Kalorienüberschuss wird dann im Fettgewebe gespeichert. Und das führt auf Dauer zu Übergewicht. Im Prinzip ist das auch nicht verkehrt. Das Problem ist nur, dass ich damit nicht wirklich etwas erklärt habe.

Ich mache mal ein Beispiel: Wir beide treffen uns zufällig am Bahnhof. Die Bahnhofshalle ist ungewöhnlich voll mit Menschen. Du fragst mich, ob ich weiß, warum es heute so voll ist. Darauf antworte ich: Na klar! Es müssen mehr Menschen reingekommen sein als rausgegangen sind.

Wenn ich dir diese Antwort gebe, würdest du vermutlich glauben, dass ich dich auf den Arm nehmen will. Es versteht sich ja von selbst, dass ein Raum voll wird, wenn auf Dauer mehr Menschen reinkommen als rausgehen. Was du aber eigentlich wissen wolltest, ist der Grund dafür!

Vielleicht gibt es ein Problem im Bahnverkehr und viele Züge sind ausgefallen. Vielleicht findet eine große Veranstaltung in der Umgebung statt und daher sind sehr viele Menschen unterwegs. Vielleicht tobt draußen auch einfach nur ein stürmisches Unwetter und viele Passanten haben sich in der Bahnhofshalle untergestellt. Das wären sinnvolle Antworten auf die Frage, die auch eine Erklärung liefern, anstatt einfach nur etwas Offensichtliches festzustellen.

Ein anderes Beispiel: Warum ist Bill Gates so reich? Die einfache Antwort lautet: Er hat mehr Geld eingenommen als er ausgegeben hat. Das ist wieder eine vollkommen richtige, aber inhaltsleere Aussage, mit der ich dich eher zum Lachen bringen würde.

Aber jetzt frage mich einmal: Warum ist ein Mensch übergewichtig? Ich antworte darauf: Er hat mehr Kalorien aufgenommen als er verbraucht hat. Die meisten Menschen würden sich tatsächlich mit dieser Antwort zufrieden geben, obwohl sie nicht das geringste erklärt hat.

Vom Sinn und Unsinn der Kalorienbilanz

Kalorien sind eine Maßeinheit für die Energie, welche in Nahrungsmitteln steckt. Indem wir etwas essen, führen wir uns Energie zu. Auf der anderen Seite verbrauchen wir Energie, indem wir uns bewegen und die Körperfunktionen aufrecht erhalten. Das Verhältnis zwischen Kalorienzufuhr und Kalorienverbrauch nennt man auch die Kalorienbilanz.

Nehmen wir mehr Kalorien auf als wir verbrauchen, dann haben wir eine positive Kalorienbilanz. Der Grund dafür liegt wohl auf der Hand: Wir essen zu viel und bewegen uns zu wenig. Und da sich überschüssige Kalorien nicht einfach in Luft auflösen, werden sie zwangsläufig im Körper gespeichert. Das passiert vor allem als Fett, das im Fettgewebe landet. Auf diese Weise nimmt der Körperfettanteil eines Menschen zu und man wird auf Dauer fettleibig.

Wenn du also übergewichtig wirst, ist das die Folge deines unausgewogenen Lebensstils. Du isst zu viel und bewegst dich zu wenig. So einfach ist das. Und für deinen Lebensstil bist ganz allein du selbst verantwortlich.

Wenn du das überschüssige Fett dann wieder loswerden willst, brauchst du eine negative Kalorienbilanz. Du musst also mehr Kalorien verbrauchen, als du aufnimmst. Das bedeutet einerseits eine Diät zu machen und andererseits mehr Sport zu treiben. Oder mit anderen Worten: Du sollst dich unterernähren und gleichzeitig deine körperliche Leistung steigern.

Die meisten Abnehmwilligen können das nicht lange durchhalten. Daher scheitern auch neun von zehn Diätversuchen kurz- oder langfristig. Das ist auch für jeden Arzt und Ernährungsberater sehr frustrierend. Übergewicht richtet so viel vermeidbares körperliches und seelisches Leid an. Und dabei ist die Lösung doch so klar und einfach: Weniger essen und mehr bewegen! Hat man da nicht jedes Recht ungeduldig und ärgerlich zu werden, wenn ein übergewichtiger Mensch diesen einfachen Anweisungen nicht folgen kann? Mittlerweile gibt es jedoch viele Experten, die dieses reine Kaloriendenken kritisieren und grundsätzlich in Frage stellen.

Nehmen wir einmal an, ein Mensch kommt zu mir in die Ernährungsberatung. Er will von mir wissen, wie er sich gesund ernähren und sein Gewicht halten kann. Ich rate ihm daraufhin, auf eine ausgewogene Kalorienbilanz zu achten. Das heißt, er soll nicht mehr oder weniger Kalorien aufnehmen, als er verbraucht. Das hört sich doch vernünftig an, oder?

Aber was verlange ich da eigentlich ganz konkret von ihm? Um auf seine Kalorienbilanz achten zu können, müsste man erst einmal wissen, wie viele Kalorien man am Tag überhaupt essen darf. Daher muss man zunächst den Kalorienbedarf eines Menschen ermitteln.

Der genaue Kalorienbedarf lässt sich allerdings nur mit teuren Messgeräten bestimmen. Dazu lässt man einen Menschen den ganzen Tag mit einer Atemmaske herumlaufen, welche die Aufnahme von Sauerstoff und die Abgabe von Kohlenstoffdioxid misst. Daraus lässt sich sehr gut der tatsächliche Energieverbrauch ableiten. Aber selbst das kann nur eine Momentaufnahme sein. Denn der Kalorienverbrauch ist ja jeden Tag anders, je nachdem, wie viel man sich bewegt.

In der Ernährungsberatung können wir den Kalorienbedarf daher nur schätzen. Dazu nehmen wir allgemeine Formeln zu Hilfe, mit denen man anhand von Gewicht, Körpergröße, Geschlecht und Alter, sowie verschiedenen Lebensstilfaktoren, den ungefähren Energieverbrauch grob eingrenzen kann. Der tatsächliche Energieverbrauch kann durchaus um 200 bis 300 kcal nach oben oder unten abweichen.

Nehmen wir an, ich habe diese Berechnungen jetzt so gut wie möglich für meinen Klienten durchgeführt und dessen Energiebedarf ermittelt. Ich teile ihm mit, dass er nicht mehr als 2250 kcal am Tag essen sollte. Das ist doch eine klare und konkrete Anweisung, oder nicht? Aber wie soll man das praktisch umsetzen?

Um sicherzustellen, dass man nicht mehr als 2250 kcal am Tag zu sich nimmt, bleibt einem nichts anderes übrig, als jede einzelne Kalorie zu zählen, die man isst. Dazu muss man ein Ernährungsprotokoll führen, in dem jede Mahlzeit ganz genau mit Mengen und Zutaten festgehalten wird. Wie lange kann man einem Menschen diesen Aufwand zumuten, bevor er die Lust daran verliert?

Meine Empfehlung auf eine ausgewogene Kalorienbilanz zu achten, hört sich in der Theorie zwar ganz vernünftig an. Doch in der Praxis ist sie gar nicht präzise durchführbar und mit einem erheblichen Arbeitsaufwand verbunden. Und das schlimmste daran ist: Wenn deine Kalorienbilanz am Ende des Tages nicht perfekt ausgeglichen ist, drohen dir schwerwiegende Konsequenzen!

Nehmen wir einmal an, du nimmst jeden Tag nur 100 kcal mehr auf, als du verbrauchst. 100 kcal stecken zum Beispiel schon in einer einzigen Scheibe Brot.

In einem Jahr, also nach 365 Tagen, hättest du damit einen Energieüberschuss von satten 36.500 kcal angesammelt. Um 1 kg Fettgewebe aufbauen zu können, benötigt ein Mensch gerade mal 7000 kcal. Nach den Gesetzen der Kalorienbilanz müsstest du damit mehr als 5 kg Gewicht zugelegt haben. Und das passiert wie gesagt schon bei einer einzigen Scheibe Brot zu viel am Tag!

Ein anderes Beispiel: Gehen wir von einem erwachsenen Menschen aus, der 30 kg Übergewicht mit sich herumschleppt. Um 30 kg Fettgewebe aufzubauen, braucht man rund 210.000 kcal. Umgerechnet auf ein Lebensalter von 30 Jahren, sind das gerade mal 20 kcal, die man am Tag zu viel aufnehmen muss. Um so schwer übergewichtig zu werden, muss man sich also nicht maßlos überernähren. Man muss lediglich einen einzigen Bissen zu viel am Tag essen!

Wie viele Menschen kennst du nun, die sich kein bisschen um ihre Ernährung kümmern, aber trotzdem ein normales und konstantes Körpergewicht halten? Ist das nicht höchst erstaunlich? Warum scheinen hier die Gesetze der Physik (denn nichts anderes ist die Kalorienbilanz) außer Kraft gesetzt zu sein?

Wenn unser Körpergewicht einzig und alleine das Ergebnis unserer Kalorienbilanz wäre, dann müssten die allermeisten Menschen in Rekordzeit unglaublich übergewichtig werden. In der Realität passiert das so aber nicht. Offensichtlich muss es noch weitere Mechanismen geben, die bei der Regulation des Körpergewichts eine Rolle spielen.

Die Bodyweight-Setpoint-Theorie

Stell dir vor, wir beide sitzen diesmal auf einer Bank im Park und unterhalten uns. Nebenbei schauen wir uns Menschen an, die mit ihren Hunden spazieren gehen. Zuerst sehen wir einen Schäferhund: Ein recht schlankes und athletisches Tier. Danach kommt ein Mops vorbei, der seinem Namen alle Ehre macht: Er ist klein, korpulent und mit niedlichen Speckröllchen übersät. Zum Schluss beobachten wir noch einen Windhund: Das ist diese extrem magere und drahtige Hunderasse, bei der man oft alle Rippen zählen kann.

Hat der Körperfettanteil dieser Tiere irgendetwas mit ihrer Kalorienbilanz beziehungsweise mit ihrem Ernährungs- und Bewegungsverhalten zu tun? Macht der Schäferhund alles richtig, während der Mops überernährt und der Windhund mangelernährt ist?

Bei Tieren ist uns völlig klar, dass ihre körperliche Erscheinung erst einmal durch ihre Genetik bedingt ist. Daher sehen alle Schäferhunde, Mopshunde oder Windhunde auch relativ gleich aus. Wenn ich behaupten würde, dass ihr Körpergewicht und ihr Körperfettanteil das Ergebnis ihrer Kalorienbilanz wären und nach Belieben veränderbar seien, dann wäre das eine ziemlich naive Vorstellung.

Selbstverständlich kann aber auch ein Tier an Gewicht verlieren, wenn es in eine Hungersituation gerät. Andererseits würde ein Tier auch an Gewicht zulegen, wenn man es zwangsweise überernährt. Doch unter normalen Bedingungen pendelt sich das Körpergewicht genau da ein, wo es gerne sein möchte, beziehungsweise wie es dem Tier in die Gene geschrieben ist.

Dieses Phänomen hat man auch schon lange beim Menschen beobachtet und wissenschaftlich untersucht. Dazu der Harvard-Professor und Übergewichtsexperte David Ludwig:

“When you overfeed people in research studies, of course they gain weight. But what happens to them? They lose all interest in food, their hunger vanishes and their metabolism speeds up. That’s theirs body’s attempt to get rid of those extra calories. At the end of the force feeding study very consistently weight will drop right back down where it’s started.

The opposite is also true. When you underfeed people in starvation studies, they lose weight. But they become ravingly hungry and their metabolism slows down. And once the study is done, their weight goes back to baseline.

So, clearly there is a sort of a bodyweight setpoint, where our body wants to be. Heavier for people who are heavy, and leaner for other people. What is causing this bodyweight setpoint to keep climbing up year after year?”

Professor David Ludwig

Professor of Nutrition, Harvard School of Public Health. Professor of Pediatrics, Harvard Medical School

Übersetzung (mit Ergänzungen): “Wenn man Menschen in Forschungsstudien überernährt, nehmen sie selbstverständlich an Gewicht zu. Aber was passiert mit Ihnen? Sie verlieren jegliches Interesse an Nahrung, ihr Hunger verschwindet und ihr Stoffwechsel beschleunigt sich. Das ist der Versuch ihres Körpers, die überschüssigen Kalorien wieder loszuwerden. Am Ende der Überernährungsstudie kehrt das Körpergewicht dann konsequent wieder zum Ausgangsgewicht zurück.

Das Gegenteil ist genauso der Fall. Wenn man Menschen in Mangelernährungsstudien unterernährt, verlieren sie an Gewicht. Aber sie bekommen auch einen unbändigen Hunger und ihr Stoffwechsel verlangsamt sich. Nach dem Ende der Studie kehrt auch ihr Gewicht wieder zum Ausgangspunkt zurück.

Es muss also offensichtlich eine Art Zielkörpergewicht (Bodyweight-Setpoint) geben, bei dem sich unser Körper gerne einpendeln möchte. Dieses kann bei kräftigeren Menschen höher liegen, und bei schlankeren Menschen niedriger. Die Frage ist dann: Was lässt diesen Bodyweight-Setpoint (bei Übergewicht) Jahr für Jahr nach oben klettern?”

Gehen wir also von der Annahme aus, dass sich unser Körper sehr gut selbst um seinen Energiehaushalt (beziehungsweise um seine Kalorienbilanz) kümmern kann. Dazu kann er einerseits den Stoffwechsel je nach Bedarf beschleunigen oder verlangsamen. Andererseits steuert er kurz- und langfristig die Nahrungsaufnahme, indem er Hunger und Sättigung reguliert. Auf diese Weise kann er unter normalen Bedingungen ein konstantes Körpergewicht halten, das für ihn optimal ist.

Dann muss man sich jetzt aber, genau wie Professor Ludwig, die Frage stellen, warum diese Kontrollmechanismen beim Übergewicht offensichtlich versagen. Was treibt uns dazu an, dauerhaft mehr zu essen, als wir eigentlich wollen?

Das Kohlenhydrat-Insulin-Modell

Professor Ludwig ist der Überzeugung, dass ein überhöhter Insulinspiegel dabei die Hauptrolle spielt. Wenn ein Mensch eine Menge schnell verdaulicher Kohlenhydrate isst, dann schüttet er auch mehr Insulin aus. Lässt dann mit der Zeit auch noch die Insulinempfindlichkeit des Körpers nach, dann spitzt sich das Problem dramatisch zu.

Jeder Mediziner weiß, dass das Insulin als Speicherhormon auch großen Einfluss auf das Verhalten der Fettzellen nimmt. Ein Überschuss an Insulin kann die Fettzellen nun dazu antreiben, zu viel Energie zu speichern. Dazu Professor Ludwig:

“Fat cells get triggered to store too many calories. They suck up the calories in the blood stream. And instead of too many calories in the blood, there are too few. That is what the brain recognizes and does, what it is supposed to do, when there aren’t enough calories in the blood stream. It thinks the body is starving. That is why we get hungry.”

Professor David Ludwig

Professor of Nutrition, Harvard School of Public Health. Professor of Pediatrics, Harvard Medical School

Übersetzung (mit Ergänzungen): “Die Fettzellen werden dazu angetrieben, zu viel Energie (beziehungsweise energiereiche Nährstoffe) aus dem Blut aufzunehmen und zu speichern. Dadurch sinkt der Energiegehalt des Blutes zu stark ab. Das wird auch vom Gehirn bemerkt, welches nun glauben muss, dass der Körper mangelernährt ist. Und dann bekommen wir Hunger.”

Je mehr Energie im fehlgesteuertem Fettgewebe verschwindet, desto weniger Energie steht dem restlichen Körper zur Verfügung. Der Energiemangel fördert nun ein Befinden, das eigentlich sehr typisch für eine Unterernährung ist: Ein Mensch fühlt sich die ganze Zeit über hungrig, unwohl und antriebslos.

Allerdings kann man sich einen Energiemangel bei einem übergewichtigen Menschen nur sehr schwer vorstellen. Von außen betrachtet sieht man hier einfach einen Menschen, der ständig zu viel isst, sich zu wenig bewegt und dabei immer dicker wird. Man macht sein persönliches Verhalten dafür verantwortlich und fordert ihn dazu auf, seine Kalorienbilanz in den Griff zu kriegen. Er soll eine Diät machen und mehr Sport treiben. Und wenn das nicht funktioniert, ist er auch noch selber daran schuld, weil es ihm an Willenskraft mangelt.

Professor Ludwig sieht daher die Lösung darin, zuerst das hormonelle Problem anzugehen. Man muss den Insulinspiegel senken, um das Fehlverhalten der Fettzellen zu korrigieren. Das schafft man am besten, indem man schnell verdauliche Kohlenhydrate vermeidet und den Fettanteil in der Ernährung erhöht. Dazu noch einmal Professor Ludwig:

“The idea here is, that by replacing those processed carbohydrates with fat, your fat cells will actually calm down, open up and release those stored calories, that flood back into the body. Your brain likes it and says “Wow, we’re well feed!”. It turns off hunger- and craving-centers. Metabolism speeds up and you shift into weightloss-mode with your body’s cooperation, not with your body kicking and screaming.”

Professor David Ludwig

Professor of Nutrition, Harvard School of Public Health. Professor of Pediatrics, Harvard Medical School

Übersetzung (mit Ergänzungen): “Die Idee hierbei ist folgende: Indem man raffinierte Kohlenhydrate durch Fett ersetzt (und dadurch den Insulinspiegel senkt), können sich die Fettzellen wieder beruhigen und die gespeicherte Energie an den Körper abgeben. Das gefällt auch dem Gehirn, das jetzt wieder weiß, dass der Körper gut ernährt und mit Energie versorgt ist. Daraufhin kann es die Hungergefühle wieder abstellen. Auch der Stoffwechsel nimmt wieder Fahrt auf. Auf diese Weise wechselt der Körper freiwillig in einen Modus, in dem er Gewicht verlieren will, anstatt sich mit Händen und Füßen dagegen zu wehren.”

Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass es sich bei Professor Ludwigs Ansatz erst einmal um ein Erklärungsmodell handelt. Es ist wissenschaftlich gut begründet und wird auch von anderen renommierten Experten unterstützt. Selbstverständlich kann man aber nicht jeden Fall von Übergewicht allein mit einem gestörten Insulinspiegel erklären.

Der Energiestoffwechsel einer Fettzelle ist eine komplexe Angelegenheit, bei der auch noch eine Menge weiterer Faktoren eine Rolle spielen. Das Kohlenhydrat-Insulin-Modell ist aber ein wichtiges Puzzlestück, das uns beim Verständnis des Gesamtbildes weiterhelfen kann.

Die Übergewichtsepidemie

Verlassen wir jetzt die feinen Details des Fettstoffwechsels und schauen uns das Übergewichtsproblem aus einer globalen Perspektive an. Das Übergewicht hat inzwischen weltweit dramatisch zugenommen und sich epidemieartig ausgebreitet.

Die WHO berichtet, dass es selbst in Entwicklungsländern inzwischen mehr übergewichtige als unterernährte Menschen gibt. Im gleichen Zuge sind Stoffwechselkrankheiten wie der Diabetes und Herzkreislauferkrankungen gestiegen, und verursachen längst mehr Todesfälle, als Infektionskrankheiten und Mangelernährung.

Das fetteste Land der Erde sind aber immer noch die Vereinigten Staaten. Der Anteil der Übergewichtigen in der erwachsenen Bevölkerung beträgt derzeit über 34 %. Das heißt, jeder dritte Mensch ist dort inzwischen übergewichtig. Und davon sind sogar viele krankhaft fettleibig. Schauen wir uns einmal die historische Entwicklung an.

Es fällt auf, dass der Anteil der Übergewichtigen lange Zeit konstant bei etwas über 10 % lag. Doch in den 80er Jahren hebt die Kurve plötzlich ab wie ein startendes Flugzeug. Irgendetwas muss also in dieser Zeit passiert sein! Professor Dariush Mozaffarian von der Tufts University in Boston fasst es so zusammen:

“What changed since the 1980’s? I think, it’s a pretty short list. The low fat craze has caused an explosion in refined carbohydrates and sugars. Liquid calories has gone way up from 1980! Especially sugar sweetened beverages, but also energy drinks, ice teas and sweetened coffees. Television watching has increased dramatically and sleep has gone down. There is growing research that lower sleep leads to obesity. And then lastly, there is growing evidence of generational effects for obesity. A mother, who is obese, is more likely to have a child, that is obese.”

Professor Dariush Mozaffarian

Professor of Nutrition at Tufts University. Dean of the Tufts Friedman School of Nutrition Science & Policy.

Übersetzung (mit Ergänzungen): “Was hat sich seit den 80er Jahren verändert? Ich denke, es ist eine ziemlich kurze Liste. Der Low-Fat-Wahn hat zu einer explosionsartigen Zunahme von raffinierten Kohlenhydraten und Zucker geführt. Besonders flüssige Kalorien haben sich seit 1980 ausgebreitet, das heißt zuckerreiche Getränke (Softdrinks), aber auch Energydrinks, Eistees und gesüßte Kaffeegetränke. Außerdem ist der Fernsehkonsum dramatisch gestiegen, während die Schlafenszeit gesunken ist. Immer mehr Studien zeigen, dass auch zu wenig Schlaf zu Übergewicht führt. Und schließlich gibt es zunehmende Beweise dafür, dass auch generationsübergreifende Effekte bei Übergewicht eine Rolle spielen. Wenn bereits eine Mutter übergewichtig ist, dann hat auch ihr Kind eine höhere Wahrscheinlichkeit, selbst übergewichtig zu werden.”

In den USA erscheinen 1980 die ersten staatlichen Ernährungsempfehlungen (Dietary Guidelines), in denen allen Menschen dazu geraten wird, sich fettarm zu ernähren. Das war der Startschuss für den bereits erwähnten Low-Fat-Trend.

In diesem Zuge nahm dann auch der Konsum von raffinierten Kohlenhydraten und insbesondere von Zucker zu. Nachdem man John Yudkin, den prominentesten Zuckergegner seiner Zeit, so eindrucksvoll abgesägt hatte, waren kritische Stimmen leise geworden. Im Gegenteil: In der Ernährungswelt konnte und wollte man sich nicht mehr länger vorstellen, dass Kohlenhydrate irgendetwas mit Übergewicht zu tun haben könnten.

Professor Walter Willett von der Harvard School of Public Health gehört zu den weltweit renommiertesten Ernährungsexperten. Auch er bedauert diesen historischen Irrtum:

“Clearly many factors have contributed to the obesity epidemic. I’m afraid that the low fat advice has been one contribution, because people were told that it was only fat calories, that counted, and that you couldn’t get fat from carbohydrate calories. And that is really painterly not true.

In fact farmers have known for thousands of years, that the way you fatten up any animal, is to put them in a pen so they can’t run around, and to feed them lots of grain, basically carbohydrates. Those animals predictably get fat.

So we’ve basically created a North American feedlot, where we have people exercising very little and eating lots of refined starches. Things like white bread and white rice, as well as all the sodas and things made with large amounts of sugar. And not surprisingly… we’re getting fat.”

Professor Walter Willett

Professor of Epidemiology and Nutrition at Harvard T.H. Chan School of Public Health and Professor of Medicine at Harvard Medical School

Übersetzung: “Es gibt viele Faktoren, die zur Übergewichtsepidemie beigetragen haben. Ich fürchte, dass der Rat zur fettarmen Ernährung einer davon war. Denn man hat den Menschen gesagt, dass es nur die Fettkalorien sind, die zählen, und dass man von Kohlenhydraten nicht dick werden könne. Und das ist nun wahrhaftig nicht richtig.

Landwirte wissen schon seit tausenden von Jahren, dass der beste Weg um Tiere zu mästen darin besteht, sie in ein Gehege zu sperren, damit sie nicht viel herumlaufen können. Dazu füttert man sie mit viel Getreide, also im wesentlichen mit Kohlenhydraten. Und dann werden diese Tiere auch mit größter Sicherheit fett.

Im Grunde haben wir Nordamerika in genau so ein Mastgehege verwandelt. Wir haben eine Bevölkerung, die sich nur noch sehr wenig bewegen muss, und die gleichzeitig große Mengen an raffinierten Kohlenhydraten konsumiert, wie zum Beispiel Weißbrot und polierter Reis, sowie Softdrinks und all die anderen Dinge, die große Mengen an Zucker enthalten. Da ist es nicht sehr überraschend, dass auch wir fett werden…”

Hart verdrahtet

Zum Einstieg in dieses Kapitel habe ich ein kleines Experiment aufgebaut. Es dauert nur eine Minute und geht direkt unter diesem Absatz los. Lies dir kurz die Anleitung durch:
ANLEITUNG

Dieses Experiment geht ganz schnell. Du wirst gleich ein Bild sehen. Deine Aufgabe besteht nur darin, es dir in aller Ruhe für 15 bis 20 Sekunden anzuschauen. Du musst keinen Fehler entdecken oder ähnliches. Lass das Bild einfach nur auf dich wirken. Klicke auf “Experiment starten” um zu beginnen. Bis gleich!

EXPERIMENT STARTEN

Pizza und Broccoli 

OKAY, ICH BIN FERTIG!

Super, du bist fertig. Hier kommt die Frage:

Welchen Teller hast du dir länger angeschaut?

War es der Broccoli?
Oder ist dein Blick eher zur Pizza gewandert?

Wenn du dich für dein Abendessen zwischen den beiden Tellern entscheiden müsstest, welchen würdest du wählen?

Bei welchem Teller hättest du eher das Gefühl, auf etwas zu verzichten oder dir etwas entgehen zu lassen, wenn du dich nicht für ihn entscheidest?

Ich wette, dass es die Pizza ist, oder?

Mir selbst geht es nämlich ganz genauso. Erstaunlich! Nach allem was wir bis jetzt über raffinierte Kohlenhydrate gelernt haben, sollte die Pizza doch wirklich das letzte sein, das uns interessiert…

Was stimmt also nicht mit uns? Schließlich verlangen wir doch auch von übergewichtigen Menschen, dass sie vernünftige Ernährungsentscheidungen treffen und sich für kalorienarmes Gemüse begeistern sollen. Warum fühlen wir uns trotz besseren Wissens dennoch stärker zur Pizza hingezogen?

Ich behaupte jetzt, dass wir allein aus biologischen Gründen gar nicht anders können! Um das besser zu erklären, lass uns zurück in die Steinzeit reisen…

Ein neuer Tag in der Savanne bricht an. Ich mache mich auf und gehe auf Nahrungssuche. Ich lege eine Strecke von gut 15 bis 20 km zurück und komme in der Mittagssonne reichlich zum schwitzen. Nach einigen Stunden kehre ich erfolgreich zum Lager zurück. Ich habe so viel gesundes, grünes Gemüse mitgebracht, wie ich tragen konnte! Doch die Begeisterung der Gruppe hält sich merkwürdigerweise in Grenzen…

Mit anderen Worten: Ich habe also mehr als 1500 kcal in Bewegung investiert, um vielleicht 500 kcal aus Gemüse zurückzubekommen. Ich fürchte, das würde auf Dauer nicht gut für mich ausgehen. Auch in der Steinzeit hatten wir schon ein Kalorienproblem. Und zwar hatten wir immer viel zu wenig davon!

Unsere wichtigsten Kalorienquellen sind Kohlenhydrate und Fette. Wenn sie in der Nahrung vorkommen, können wir sie auch gleich am Geschmack erkennen. Daraufhin wird das Belohnungszentrum im Gehirn aktiv und schüttet den Botenstoff Dopamin aus. Das Dopamin fokussiert unsere Aufmerksamkeit, löst Verlangen aus und bereitet uns Vergnügen. Auf diese Weise bringt uns der Körper dazu, vor allem die Dinge zu essen, die vorrangig für das Überleben wichtig sind.

Ein weiterer Stoff, der sehr attraktiv auf uns wirkt, ist das Salz. Es ist kein Zufall, dass wir am ganzen Körper schwitzen können. Dadurch können wir sehr gut überschüssige Körperwärme ableiten, was uns zu hervorragenden Ausdauerläufern macht. Allerdings verlieren wir dabei über den Schweiß auch sehr viel Salz, das wir schnell wieder über die Nahrung hereinholen müssen. Daher gehört auch das Salz zu unseren vorrangigen geschmacklichen Vorlieben.

Wir sind also schon vom Gehirn aus sehr hart auf den Geschmack von Kohlenhydraten, Fetten und Salz verdrahtet, weil sie einfach für das Überleben wichtig sind. Damit uns eine Mahlzeit wirklich gut schmecken und zufrieden machen kann, müssen mindestens diese drei Dinge vorhanden sein.

Ein Beispiel: Ich setze 2 Liter Wasser auf und koche etwas Gemüse darin. Wie schmeckt das? Relativ fade und uninteressant. Jetzt gebe ich eine gute Prise Salz dazu. Damit habe ich mein langweiliges Gemüsewasser in eine schmackhafte Gemüsebrühe verwandelt. Anschließend nehme ich ein Kilo Kartoffeln, schneide sie klein und lasse sie auch mitkochen. Nun habe ich eine kohlenhydratreiche Mahlzeit, die mich sogar satt machen kann. Wenn ich dann noch ein großes Stück Suppenfleisch hinzugebe, bringe ich Fett und Eiweiß mit ins Spiel. Erst jetzt wird aus meiner Suppe eine wirklich runde und vollwertige Sache, die mir richtig gut schmeckt und mich zufrieden macht. Guter Geschmack ist also kein Zufall! 

Kommen wir jetzt wieder auf die Pizza zurück. Eine Pizza liefert ein fantastisches Geschmackserlebnis. Hier wird feines Weißmehl mit reichlich Salz zu einem herzhaften Teig verknetet. Dieser wird mit einer würzig aromatischen Tomatensauce bestrichen und dann mit möglichst viel vollfettem Käse überbacken. Unsere geschmacklichen Vorlieben für Kohlenhydrate, Fett und Salz werden voll befriedigt.

Daher fokussiert sich unsere Dopamin-getriebene Aufmerksamkeit auch vielmehr auf die Pizza als auf den Broccoli, weil die Aussicht auf die Pizza das Belohnungszentrum viel stärker anregt. Das lässt uns sogar ein wenig gierig werden. Daher fällt es auch gar nicht mal so leicht, mit dem Pizzaessen wieder aufzuhören, solange noch etwas da ist und man noch Platz im Magen hat. Wir würden uns niemals mit Freunden um die letzte Portion Broccoli streiten, aber sehr wohl um das letzte Stück Pizza in der Schachtel…

Nehmen wir jetzt an, ich habe dich zum Pizzaessen eingeladen. Wir haben jeweils eine große Pizza bis zum letzten Stück aufgegessen und sind pappsatt. Aus Höflichkeit biete ich dir trotzdem an, noch einmal Nachschub zu bestellen. Daraufhin legst du dir die Hand auf den vollen Magen und lehnst du mit größter Leichtigkeit dankend ab. Aber wie wäre es mit einem Dessert?

Plötzlich bringt uns der Kellner noch ein verlockendes Stück Schokosahnetorte auf Kosten des Hauses an den Tisch und stellt es uns direkt unter die Nase. Auf magische Weise entsteht wieder Platz im Magen und das Verlangen zu essen kehrt zurück. Spätestens jetzt sollte uns klar sein, dass dies nichts mehr mit unserem natürlichen Appetit zu tun hat. Die Sache spielt sich nur noch im Kopf ab. Es geht uns nur noch um die Befriedigung beziehungsweise den Dopaminausstoß, den uns das Stück Torte bringen kann.

Der süße Geschmack wirkt nämlich am stärksten auf das Belohnungszentrum im Gehirn und schüttet besonders viel Dopamin aus. Er signalisiert uns schnell verfügbare Kohlenhydrate, was in der Steinzeit eine seltene und wertvolle Sache war. Außerdem gibt es in der Natur so gut wie nichts, das süß schmeckt und für uns giftig wäre. Aus evolutionärer Sicht macht es daher sehr viel Sinn, dass unsere Vorliebe für Süßes besonders stark ausgeprägt ist.

Stell dir vor, du hast das jetzt alles gründlich verstanden und arbeitest in der Lebensmittelbranche. Deine Aufgabe besteht aber nicht darin, Menschen gut zu ernähren, sondern möglichst viele Produkte zu verkaufen und Profit zu erwirtschaften. Was tust du? Du würdest wahrscheinlich so viel Zucker, Fett und Salz in deinen Produkten verstecken, wie nur möglich ist…

“We do have a natural sense of sweetness and saltiness. But the problem is, that we never had the high levels of sugar and salt, that are now engineered in our food supply. In some ways we are living in a highly unnatural environment. There has been a lot of research, that has gone into using our evolutionary drives to encourage us to overeat.”

Professor Walter Willett

Professor of Epidemiology and Nutrition at Harvard T.H. Chan School of Public Health and Professor of Medicine at Harvard Medical School

Übersetzung (mit Ergänzungen): “Wir haben eine natürliche Vorliebe für Süßes und Salziges. Das Problem ist aber, dass wir es nie zuvor mit derart hohen Mengen an Zucker und Salz zu tun hatten, die nun in unseren Lebensmitteln verarbeitet werden. In gewisser Weise leben wir heute in einer höchst unnatürlichen Umwelt. Es wurde sehr viel Forschung (seitens der Lebensmittelwirtschaft) betrieben, wie man unsere evolutionären Vorlieben ausnutzen kann, damit wir möglichst viel essen.”

Am Anfang dieses Artikel hatte ich die Behauptung in den Raum gestellt, dass Überernährung und Übergewicht vor allem eine Sache der persönlichen Verantwortung sei. Wie denkst du jetzt darüber? Ist ein übergewichtiger Mensch wirklich selbst schuld, wenn er sich überernährt? Oder leben wir nicht inzwischen in einer Umwelt, in der man sich schon aktiv dagegen wehren muss, um es nicht zu tun?

Der Mediziner David A. Kessler hat ein langes Buch über die Ursachen der Überernährung geschrieben. Er bringt die Sache so auf den Punkt:

“Why do we overeat? We took fat, sugar and salt, and we put it on every corner. We made it available 24/7. We made it socially acceptable to eat it anytime. We made food into entertainment… What do we expect to happen?”

Dr. David A. Kessler

Former Commissioner of the U.S. Food and Drug Administration. Professor in the Department of Pediatrics at UCFS School of Medicine. University of California, San Francisco

Übersetzung: Warum essen wir zu viel? Wir nehmen Fett, Zucker und Salz, stecken es überall rein und bieten es überall an. Wir machen es rund um die Uhr verfügbar. Wir sind alle damit einverstanden, es jederzeit zu essen. Wir verwandeln Nahrung in Unterhaltung… Was erwarten wir denn eigentlich, was dann passieren soll?

The Western Diet

Michael Pollan ist Schriftsteller und Professor für Journalistik an der University of California in Berkeley. In seinen Büchern beschäftigt er sich schon seit vielen Jahren mit den Problemen der modernen westlichen Ernährung. Diese beschreibt er mit dem Begriff “Western Diet” (Anmerkung: Das Wort “Diet” bedeutet im Englischen sowohl Diät, als auch Ernährungsweise).

“The diet most of us eat these days has become known as the western diet. It includes lots of meat, white flour, vegetable oils and sugar. And very little fruit, vegetables and whole grains. It’s cheap. It’s convenient. And most of it has been processed to taste really good.”

Michael Pollan

Author, journalist and professor of journalism at the UC Berkeley Graduate School of Journalism, University of California, Berkeley

Übersetzung (mit Ergänzungen): “Die meisten Menschen essen heutzutage eine Kost, die wir als die westliche Ernährungsweise (Western Diet) bezeichnen. Diese enthält einerseits sehr viel Fleisch, Weißmehl, raffinierte Pflanzenöle und Zucker, und andererseits sehr wenig Obst, Gemüse und Vollkorngetreide. Sie ist billig. Sie ist bequem. Und sie ist so verarbeitet, dass sie richtig gut schmeckt.”

Woher kommt diese Western Diet eigentlich? Als einen entscheidenden Faktor kann man sich die Agrarpolitik der USA seit den 70er Jahren anschauen, die weltweit Schule machen sollte. Damals hatte man beschlossen, hohe Lebensmittelpreise zu bekämpfen. Dazu nahm man sehr viel Geld in die Hand und begann damit, den Getreideanbau massiv zu subventionieren. Außerdem stellte man die Landwirtschaft von kleinen Farmen auf massive Großbetriebe um. Damals hieß die Devise: Get big or get out!

Heute sind ganze Bundesstaaten in den USA mit gigantischen Maisfeldern bedeckt. Aus dem Mais kann man nun eine ganze Menge machen. Man kann ihn gleichzeitig zu Zuckersirup, Stärkemehl und Speiseöl verarbeiten! Außerdem wandert er als Futtermittel in die Tierzucht, um massenweise Fleisch zu produzieren. Auf diese Weise kann schon ein einziger billiger Rohstoff beinahe alles liefern, was man für ein modernes Fast-Food-Menü oder Fertigprodukt benötigt.

Das Ergebnis ist, dass wir heute mit sehr billigen Nahrungsmitteln überschwemmt werden, die hoch verarbeitet sind, aus wenigen Rohstoffen hergestellt werden können und meistens sehr viel Zucker, Fett und Salz enthalten, damit sie uns besonders gut schmecken. Außerdem kann man diese Produkte auch sehr lange haltbar machen und dadurch in die ganze Welt exportieren.

Von daher machen viele Kritiker auch die Politik und die Wirtschaft für die Übergewichtsepidemie mitverantwortlich. Diese weisen jedoch gerne alle Schuld von sich, indem sie mit der Kalorienbilanz argumentieren: Ein Mensch müsse doch die Freiheit haben, zu essen, was er will. Solange er am Ende des Tages nicht mehr Kalorien aufnimmt als er verbraucht, wird er auch nicht übergewichtig. So einfach ist das. Um seine Kalorienbilanz muss sich aber jeder Mensch selber kümmern.

Allerdings kann man die Sache auch anders sehen: 500 kcal aus Traubenzucker wirken sich beispielsweise anders im Körper aus als 500 kcal aus Fruchtzucker. Der Traubenzucker wird in jeder Zelle aufgenommen, während der Fruchtzucker geballt in der Leber aufschlägt. Von daher ist nicht jede Kalorie gleich!

Weiterhin macht es einen großen Unterschied, ob ich meine Kohlenhydrate in Form von natürlichen, ballaststoffreichen Grundnahrungsmittel zu mir nehme oder als hoch verarbeitete Fertigprodukte. Letztere bewirken eine verstärkte Insulinausschüttung und fördern die Insulinresistenz mit allen damit verbundenen Konsequenzen. Außerdem bringen sie das natürliche Hunger- und Sättigungsgefühl durcheinander, und verleiten uns dazu, mehr zu essen, als wir eigentlich wollen. Wir können ihnen schon allein aus evolutionären Gründen, beziehunsgweise unseren natürlichen Geschmacksvorlieben, nur sehr schwer widerstehen.

Von daher kann man den Markt nicht einfach mit billigen, raffinierten Kohlenhydraten und Zucker überschwemmen, und gleichzeitig behaupten, dass dies nicht zum Übergewicht beitragen würde. Die Empfehlung auf die eigene Kalorienbilanz zu achten, mag vielleicht gut gemeint sein, ist aber letzten Endes sehr wirklichkeitsfremd und macht einen großen Bogen um das eigentliche Problem.

Hier habe ich noch einen Gastvortrag von Professor Robert Lustig herausgesucht, den er an der Universität Stanford gehalten hat. Darin beschreibt er ausführlich, warum uns hoch verarbeitete Fertigprodukte letzten Endes mehr Schaden als Nutzen bringen. Auch die anschließende Diskussionsrunde mit Professor Christopher Gardner ist sehr interessant.

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Kommen wir zum Schluss noch zu einer ganz anderen Ursache von Übergewicht, die im wahrsten Sinne des Wortes lange Zeit im Dunkeln lag.

Die Rolle der Darmflora

Mittlerweile ist klar, dass auch die Darmflora unser Körpergewicht in hohem Maße beeinflussen kann. Steigen wir dazu mit einem Fallbeispiel aus der Medizin ein:

Eine 42-jährige Frau leidet unter einer schweren Infektion des Darms, die durch eine Ausbreitung des Bakteriums Clostridium difficile ausgelöst wird. Bei der Behandlung dieser Infektion hat sich in der Medizin ein kompletter Neuaufbau der Darmflora bewährt.

Dazu tötet man zuerst einmal die gestörte Darmflora mit starken Antibiotika ab. Danach sucht man sich einen Menschen mit einer gesunden Darmflora, entnimmt ihm eine Stuhlprobe und führt diese in den gereinigten Darm des Patienten ein. Der Kot eines Menschen besteht nämlich zum größten Teil aus Darmbakterien, die nun damit beginnen, die neue Umgebung rasch zu besiedeln. Diese Methode nennt man auch eine Stuhltransplantation, mit der man hervorragende Heilungserfolge bei C-Diff Infektionen erzielen kann.

Allerdings hört sich die ganze Prozedur genauso befremdlich an, wie sie auch ist. Daher entscheidet sich unsere Patientin dafür, wenigsten ihre 16-jährige Tochter als Spenderin zu nehmen, anstatt sich den Stuhl eines Wildfremden in den Darm einführen zu lassen.

Die Behandlung verläuft erfolgreich. Doch ein Jahr später meldet sich die Frau in der Klinik zurück und beklagt sich über eine stetige Gewichtszunahme. Dabei war sie doch ihr ganzes Leben lang normalgewichtig gewesen und hat auch an ihrer Ernährung nichts verändert.

Die Ärzte sind erst einmal ratlos. Allerdings fällt ihnen auf, dass auch die Tochter inzwischen viel Gewicht zugelegt hatte und bereits zum Beginn der Behandlung leicht übergewichtig war.

Obwohl auch andere Erklärungen möglich sind, wird in diesem Fall der Verdacht nahe gelegt, dass die Darmbakterien die entscheidende Rolle spielen. In vielen Untersuchungen konnte bereits gezeigt werden, dass übergewichtige Menschen oft eine ungünstig zusammengesetzte Darmflora besitzen. Bei ihnen überwiegt meistens ein Bakterienstamm namens Firmicutes. Diese Bakterien produzieren in hohem Maße eigene Verdauungsenzyme, was die Nahrungsverwertung im Darm sehr viel effektiver macht. Das beschert diesen Menschen gut 200 kcal extra am Tag.

Auch in Tierversuchen kann man obiges Beispiel eindrucksvoll demonstrieren. Man kann das Körpergewicht von Mäusen allein über die Manipulation ihrer Darmflora nach Belieben verändern. Wenn man dann die veränderte Darmflora einer dicken Maus in eine dünne Maus transplantiert, beginnt dieses ebenfalls schnell an Gewicht zuzulegen.

Inzwischen hat man sogar Botenstoffe und Signalwege entdeckt, mit denen die Darmbakterien großen Einfluss auf den gesamten Energiestoffwechsel, auf die Arbeit der Fettzellen und sogar auf die Insulinempfindlichkeit des Körpers nehmen können. Wie das alles genau funktioniert, ist aber erst ansatzweise verstanden.

Eine gesunde Darmflora kann man sich jedenfalls wie ein buntes und lebendiges Ökosystem vorstellen. Es gedeiht durch eine möglichst große Vielfalt unterschiedlicher Bakterienarten, die sich gegenseitig in der Balance halten. Nimmt diese Vielfalt ab, dann können einzelne Bakterienarten die Oberhand gewinnen und auch den Stoffwechsel einseitig beeinflussen. Im Wesentlichen gibt es nun vier große Probleme, welche die Bakterienvielfalt im Darm stören können.

Das erste Problem beginnt bereits bei der Geburt. Wenn ein Kind auf natürliche Weise geboren wird, dann kommt es bei seinem Weg durch den Geburtskanal zum ersten Mal mit der guten Bakterienflora der Mutter in Kontakt. Diese Bakterien beginnen sofort damit, den noch sterilen Darm des Kindes zu besiedeln und bilden die Grundlage für eine gesunde Darmflora. Außerdem verhindern sie damit auch, dass sich schädliche Keime breitmachen können. Nun werden aber immer mehr Kinder per Kaiserschnittgeburt zur Welt gebracht. Auf diese Weise verpassen sie diese wichtige Initialzündung ihrer eigenen Darmflora, die dann später oft deutlich schlechter zusammengesetzt ist.

Das zweite große Problem sind Antibiotika. Der Einsatz von Antibiotika, selbst zur Behandlung kleinerer Infektionen, ist in der Vergangenheit stark gestiegen. Und damit werden dann auch jedes Mal nicht nur die schädlichen Keime, sondern auch unsere guten Darmbakterien dezimiert!

Das nächste Problem nennt man in der Wissenschaft auch die sogenannte Hygienehypothese. Der moderne Stadtmensch lebt heute in einer sehr reinlichen Umwelt und achtet auf seine persönliche Hygiene. Seine Nahrung wird gründlich gewaschen und gekocht. Außerdem hat er auch kaum noch direkten Kontakt zur Natur. Auf diese Weise machen wir es nützlichen Bakterien sehr schwierig, ihren Weg in unseren Körper zu finden. Auch das tut der Bakterienvielfalt in unserem Darm nicht gerade gut.

Das letzte Problem ist schließlich eine einseitige Ernährung. Die Darmbakterien sind direkt abhängig von dem, was wir essen. Sie profitieren von einer pflanzenreichen und vielseitigen Kost, die viele Ballaststoffe enthält. Das ist also genau das Gegenteil von dem, was die meisten Menschen heute essen, und was Michael Pollan als die Western Diet beschrieben hat. Diese besteht im Wesentlichen aus Fleisch, Weißmehl, Fett und Zucker. Dagegen mangelt es an Gemüse, Obst und Vollkorngetreide.

Die Darmflora auf Fast Food

Professor Tim Spector ist Genetikforscher am King’s College in London. Außerdem ist er der Direktor des nationalen British Gut Project, das sich die Erfassung und Erforschung der menschlichen Darmflora zur Aufgabe gemacht hat.

Professor Spector wollte in einem kleinen Experiment untersuchen, wie sich eine strikte Fast-Food-Ernährung wohl auf die Darmflora auswirken würde. Für diesen Versuch stellte sich sein eigener Sohn Tom (22, Student) gerne zur Verfügung. Er sollte für die nächsten 10 Tage nichts anderes als Burger, Chicken Nuggets, Pommes, Softdrinks und Eis zu sich nehmen. Dazu besuchte er mindestens zweimal am Tag ein Schnellrestaurant seiner Wahl (im Namen der Wissenschaft und auf Kosten der Uni versteht sich).

Nach den 10 Tagen sollte dann geschaut werden, wie sich Toms Darmflora verändert hat. Um einen aussagekräftigen Vergleichswert zu haben, musste er sich natürlich vor dem Experiment eine Zeit lang gesund ernähren. Was war also passiert?

Schauen wir uns erst einmal an, wie es ihm äußerlich ergangen ist: Schon am dritten Tag ließ Toms anfängliche Begeisterung für das Experiment langsam nach. An Tag 5 verspürte er deutliche Gelüste auf Obst und Salat. An Tag 6 fühlte er sich nach jeder Mahlzeit aufgebläht und schlapp. An Tag 8 kamen sogar Schweißausbrüche und Erschöpfungszustände dazu. Außerdem schlief er nicht mehr gut. An Tag 9 musste er sich schon dazu zwingen weiter zu machen und fühlte sich den ganzen Tag lang nur noch träge. Nach Tag 10 war er dann heilfroh, als das Experiment endlich vorbei war. Insgesamt hatte er 2 kg Körperfett aufgebaut und seine Freunde meinten, er sehe auch sonst ziemlich angeschlagen aus. Sein erster Gang führte ihn direkt die Obst- und Gemüseabteilung des nächsten Supermarktes. Für die nächsten 6 Wochen konnte er keinen Burger mehr anschauen.

Auch die anschließende Analyse seiner Darmflora war beeindruckend. Die Vielfalt der nachweisbaren Darmbakterien war drastisch um 40 % gesunken! Die Anzahl nützlicher Darmbakterien, wie die Bifidusbakterien, hatte sich halbiert. Auch die Zusammensetzung der Bakterienstämme hatte sich ungünstig verändert und tendierte mehr zu den Gruppen, die mit Übergewicht assoziiert sind. Es hatten sich sogar eher seltene Bakterien (wie Lautropia) ausbreiten können, die normalerweise nur bei Menschen mit einer Immunschwäche auftreten. Insgesamt neigte die Darmflora nun zu einem sehr aggressiven und entzündungsfördernden Stoffwechsel.

Und so sieht übrigens auch die Darmflora aus, welche die meisten Nordamerikaner heute dank der Western Diet haben. Das wissen leider Professor Spectors Kollegen vom American Gut Project in San Diego zu berichten.

Die Darmflora kann sich glücklicherweise relativ schnell wieder erholen, da sich Bakterien rasch vermehren können. Nachdem Tom wieder auf eine obst- und gemüsereiche Ernährung umstieg, verbesserten sich seine Werte innerhalb weniger Tage. Von daher kann Professor Spector einen sehr einfachen Rat geben, was man selbst für eine gesunde Darmflora tun kann:

“Diets that are high in sugar and processed foods are bad for our microbes, and by extension for our health. Diets that are high in vegetables and fruits are good for both.

The U.S. writer on food and health Michael Pollan’s simple seven word message sums it up: Eat food. Not too much. Mostly plants. And to modify another bit of his advice: Don’t eat anything your great grandmother’s microbes wouldn’t recognize as food”.

Professor Tim Spector

Professor of Genetic Epidemiology and Director of the TwinsUK Registry at Kings College, London

Übersetzung (mit Ergänzungen): Eine Ernährung, die sehr viel Zucker und verarbeitete Lebensmittel enthält, ist sowohl schlecht für unsere Darmbakterien, als auch in der Folge für unsere Gesundheit. Eine Ernährung, die reichlich Gemüse und Obst enthält, ist dagegen gut für beide.

Der amerikanische Autor Michael Pollan fasst es mit sieben einfachen Worten zusammen: Eat food (esst echte Lebensmittel). Not too much (nicht zu viel). Mostly plants (und das meiste davon pflanzlich). Außerdem möchte ich einen weiteren seiner Ratschläge ergänzen: Esse nichts, was nicht auch schon die Darmbakterien deiner Urgroßmutter als Lebensmittel erkannt hätten.”

Was können wir tun?

Erst einmal vielen Dank dafür, dass du es bis zum Ende dieses langen Artikels geschafft hast! Jetzt haben wir genug über Probleme geredet. Was können wir tun, um diese zu lösen?

Stell dir vor, wir würden ab morgen nur noch natürliche, möglichst unverarbeitete Lebensmittel einkaufen. Das heißt Gemüse, Kräuter und Obst, Vollkorngetreide und Hülsenfrüchte, Nüsse und Samen, Kartoffeln und Süßkartoffeln, gutes Olivenöl, sowie Fleisch, Fisch, Eier und Milchprodukte. Wir verarbeiten unsere Lebensmittel selbst und bereiten ehrliche Mahlzeiten zu, die uns schmecken. Wenn wir Durst haben, trinken wir Wasser. Damit wären so gut wie alle Probleme adressiert und gelöst, die wir bis jetzt besprochen haben.

Echte Lebensmittel verleiten uns nicht zur Überernährung. Sie pfuschen nicht mit unserem natürlichen Hunger- und Sättigungsempfinden herum. Darüber hinaus würden Zucker und andere raffinierte Kohlenhydrate keine große Rolle mehr in unserer Ernährung spielen, und bekämen gar nicht erst die Chance den Insulinstoffwechsel aus der Bahn zu werfen. Und schließlich würden wir auch das Bestmögliche für eine gesunde Darmflora tun.

Daher sind echte Lebensmittel und ein gesunder Lebensstil der beste Weg, um ein normales Körpergewicht zu halten, oder um Übergewicht nachhaltig wieder abzubauen. Im nächsten Artikel werde ich ausführlich beschreiben, was alles zu einer gesunden Ernährung und Lebensweise dazu gehört. Im Wesentlichen muss man sogar nur vier Dinge richtig machen…

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